Institut für Deutsch als Fremdsprache
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Sprachlose Wissenschaft – Wissenschaft ohne Sprachen?

Zur Rückgewinnung von Internationalität und kognitiver Vielfalt in Lehre und Forschung

21.01.2019

Einladung zu einem Fachgespräch/Workshop am 3. Mai 2019 aus Anlass des 40-jährigen Bestehens des Instituts für Deutsch als Fremdsprache zum Thema:

Die Vielsprachigkeit Europas, die individuelle Mehrsprachigkeit als weltweiter Regelfall und die extrem verschiedenen Äußerungsformen der Sprache von den Repliken des Alltagsdialogs, der komplexen Kulturkommunikation in Wissenschaft und Politik bis hin zur Singularität eines Gedichts [1] gehören laut Harald Weinrich zu den wichtigsten Bezugspunkten des Faches Deutsch als Fremdsprache. Besondere Bedeutung misst er dabei der „Sprachkultur“ zu in Auseinandersetzung mit C.P. Snows Rede von den ‚zwei Kulturen‘: einer geisteswissenschaftlich-literarischen und einer naturwissenschaftlich-technischen [2].

Naturwissenschaft und Technik streben nach der Erkenntnis und Beherrschung von Sachen und Dingen. Im Zuge des universalisierten (ursprünglich amerikanischen) linearen Innovationsmodells von Wissenschaft [3] setzt sich, einhergehend mit dem globalen Englisch, ein reduktionistischer Denkstil durch. Er macht Sprache tendenziell unsichtbar. Gleichzeitig erfolgt die Aufmerksamkeitsbildung für wirtschaftliche Phänomene selektiv und gleichförmig [4]. Progressive Bekenntnisse zur Vielfalt bleiben dabei zumeist kulturell farblos und inhaltlich unverbindlich [5]. Dass aus der Ökonomisierung der Bildungssysteme nicht automatisch ein Mehr an Demokratie erfolgt, zeigt das Beispiel einiger postkommunistischer EU-Staaten [6].

Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Weinrich den Fremdsprachenphilologien eine hervorstechende internationale Bedeutung zugesteht [7]. Nicht Parteilichkeit für das Deutsche ist sein Ausgangspunkt, sondern die im Verhältnis zu anderen Sprachen asymmetrische Funktionalisierung des Englischen als Verkehrssprache im Namen der Synchronisierung globaler Handlungsziele [8]. Mit ihrer durch Fiktionen wie der „Wissensgesellschaft“ suggerierten systemischen Geschlossenheit [9] erweist sich die Gemengelage ebenso als sprach(en)fern wie immunisiert gegenüber ihren Inkohärenzen.

Zu ihren lokalen und weltweiten Kontextbedingungen verhalten sich fremdsprachenphilologische Institutionen auf nicht-englischsprachiger Basis erstaunlicherweise oft ausweichend bis ambivalent. Sie scheinen in einer Paradoxie gefangen, wenn sie in ihren Selbstkommentaren die kognitiven, ethischen und sozialen Vorteile sprachkultureller Diversität betonen, indes das mutmaßlich entscheidende Sprachwissen im Hörsaal in anglifizierten (ökonomisierten) diskursiven Domänen vermittelt wird [10]. Die sich in umgekehrter Konsequenz ergebende Gleichsetzung des lokal, historisch und sprachdivers Spezifischen mit dem Provinziellen (hier: dem Deutschen) belegen Banalitäten und inhaltliche Amorphien der „Landeskunde“.

Vor diesem breit gespannten Hintergrund identifizieren wir vorläufig vier zentrale Fragen mit Blick auf die Zukunft des Faches Deutsch als Fremdsprache:

  1. Wie sollte sich das Fach zu den Prämissen eines vorwiegend von ökonomischen Interessen getriebenen Modells von Wissen und Wissenschaft verhalten sowie zu ihren Normierungen durch Industrie, Politik, Bildungsagenturen sowie den internationalen Wissenschaftsapparat?
  2. Wenn das Unterfangen Fremdsprachenphilologie eine kognitive Doppeltätigkeit bedeutet, nämlich das „stetige Naherücken des Fernen wie ein stetiges Fernerücken des Nahen“ (Leo Spitzer), verfügt das Fach Deutsch als Fremdsprache bislang über adäquate wissenschaftliche und curriculäre Kapazitäten, um das anspruchsvolle Ziel einer „transdifferenten“ [11] Lehr- und Lernpraxis zu verwirklichen?
  3. Wie können Sprach- und Literaturwissenschaft künftig produktive Arbeitsbeziehungen eingehen, da beide Fächer von Anfang an das Selbstverständnis des Münchner Instituts prägen, ohne dass das eine oder andere einen Bereich der Sprache ganz für sich beanspruchen kann?
  4. Wie reagiert das Fach Deutsch als Fremdsprache auf den zu erwartenden grundlegenden Wandel der Bedürfnisse und Voraussetzungen des Sprachlehrens/-lernens infolge der auf linguistischen Erkenntnissen aufbauenden, aber in sich alinguistischen Informatik [12], nicht zuletzt: die kommerzielle Verfügbarkeit von KI-Übersetzungsmaschinen? Wird individuelle Mehrsprachigkeit obsolet?

Thomas Borgard, Jörg Roche

Sprecher:
Till Dembeck (Luxembourg)
David Kaldewey (Bonn)
Cordula Neis (Flensburg)
Brigitte Rath (Innsbruck)
Alexander Ziem (Düsseldorf)



Literatur
[1] Bachtin, Michail: Sprechgattungen [1953]. Hrsg. v. Rainer Grübel, Renate Lachmann, Sylvia Sasse. Aus d. Russ. von Rainer Grübel, Alfred Sproede. Berlin 2017.

[2] Weinrich, Harald: Sprache, das heißt Sprachen [2001]. Mit einem vollständigen Schriftenverzeichnis des Autors 1956-2005. 3., ergänzte Aufl. Tübingen 2001.
Weinrich, Harald: „Sprache ohne Sprachkultur ist für mich etwas Monströses“ [Interview]. In: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung (2001).
URL: http://www.diezeitschrift.de/42001/gespraech.htm

[3] Godin, Benoît: „The Linear Model of Innovation. The Historical Construction of an Analytical Framework“. In: Science, Technology, & Human Values 31,6(2006), S.639-667.
Kaldewey, David: Wahrheit und Nützlichkeit. Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Distanz. Bielefeld 2013.

[4] Graupe, Silja: Beeinflussung und Manipulation in der ökonomischen Bildung. Hintergründe und Beispiele. FGW – Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung e.V. (Hrsg.). Düsseldorf 2017.

[5] Flores, Nelson: „From Language-as-Resource to Language-as-Struggle: Resisting the Cokeification of Bilingual Education“. In: Flubacher, Mi-Cha; Del Percio, Alfonso (Hrsg.): Language, Education and Neoliberalism. Critical Studies in Sociolinguistics. Bristol/Blue Ridge Summit, PA 2017, S.62-81.

[6] Kaščák, Ondrej; Pupala, Branislav: „Towards perpetual neoliberalism in education: The Slovak path to postcommunist transformation“. In: Human Affairs 24(2014), S.545-563.
Götz, Irene; Roth, Klaus; Spiritova, Marketa (Hrsg.): Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2017.

[7] Weinrich, Harald: „Deutsch als Fremdsprache – Konturen eines neuen Faches“. In: Jahrbuch für Deutsch als Fremdsprache 5(1979), S.1-13.

[8] Gordin, Michael D.: „Introduction: Hegemonic Languages and Science“. In: Isis 108,3(2017), S.606-611.
Spowage, Kate: „English and Marx’s ‚general intellect‘: The construction of an English-speaking élite in Rwanda“. In: Language Sciences 70(2018), S.167-178.

[9] Srubar, Ilja: „Die Unwissensgesellschaft. Moderne nach dem Verlust von Alternativen“. In: Tänzler, Dirk; Knoblauch, Hubert; Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Zur Kritik der Wissensgesellschaft. Konstanz 2006, S.139-154.

[10] Levisen, Carsten: „Biases we live by: Anglocentrism in linguistics and cognitive sciences“. In: Language Sciences 30(2018), S.1-13.

[11] Lösch, Klaus: „Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte“. In: Allolio-Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta; Manzeschke, Arne (Hrsg.): Differenzen anders denken. Frankfurt/M., S.26-49.
Jullien, François: Der Weg zum Anderen. Alterität im Zeitalter der Globalisierung [2012]. Aus d. Franz. von Christian Leitner. Wien 2014.

[12] Bubenhofer, Noah; Dreesen, Philipp: „Linguistik als antifragile Disziplin? Optionen in der digitalen Transformation“. Digital Classics Online 4,1(2018), S.63-75.
DOI: https://doi.org/10.11588/dco.2017.0.48493
Bubenhofer, Noah: „Wenn ‚Linguistik‘ in ‚Korpuslinguistik‘ bedeutungslos wird. Vier Thesen zur Zukunft der Korpuslinguistik“. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 92(2018), S.17-30.


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