Interview mit Professor van Peer
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"Sherlock Holmes fand auch eine Fortsetzung"
Harry-Potter-Bücher haben eine riesige Lesergemeinde. Der Literaturwissenschaftler Willie van Peer über den Zauberlehrling und die Verführung zum Lesen.
Herr van Peer, laut einer Studie bezeichnen sich 45 Prozent der Jugendlichen in Deutschland sich als Nicht- oder Kaum-Leser. Kann denn das stimmen?
Die Untersuchung ist schon ein paar Jahre alt. Ich glaube aber, ohne Harry Potter wäre die Zahl heute noch größer.
Glauben Sie, dass die Potter-Büchern wirklich alle gelesen wurden?
Ja. Die Kinder, die sich Harry Potter gewünscht oder gekauft haben, lesen ihn tatsächlich. In so einer Kindergruppe merkt man schnell, wer ein Buch wirklich gelesen hat oder nur damit prahlt. Das ist bei Erwachsenen anders. Die kaufen sich auch mal ein Buch, nur um es ins Regal zu stellen.
Jungen gelten als die schlechteren Leser. Hat Potter das verändert?
Die Erfahrung zeigt, dass Jungen andere Leseerlebnisse bevorzugen als Mädchen. Während Mädchen sich gut mit Helden beiderlei Geschlechts identifizieren können, bevorzugen Jungen eindeutig männliche Helden. Ich kann mir vorstellen, dass Harry Potter überproportional viele Jungen angesprochen hat.
Gab es früher schon Bücher, die ganze Generationen von Jugendlichen verschlungen haben?
Klar, "Tom Sawyer" zum Beispiel, "Gullivers Reisen", "Robinson Crusoe" und Enid Blytons Bücher.
Gibt es Auslöser, die darüber entscheiden, ob ein Mensch zum Leser wird?
Wenn ein Buch starke emotionale und soziale Erfahrungen für ein Kind bereit hält, wird es wieder danach suchen. Ich fürchte, da wird in den Schulen noch vieles falsch gemacht, weil das Lesen zu oft mit Aufgaben verbunden wird.
Kann man das richtige Buch zur falschen Zeit lesen?
Dann stellt sich dieses wichtige emotionale Erlebnis nicht ein. Gerade bei Harry Potter hört man oft, dass sich sehr junge Kinder die Bücher vorlesen lassen; ich habe schon Sechsjährige im Kino gesehen. Aber die haben noch gar nicht die Reife, um die in den Büchern behandelten Themen zu verstehen.
Die könnten ja ein paar Jahre warten. Oder glauben Sie, dass man bald nicht mehr Potter liest?
Das hängt auch davon ab, wie sich Frau Rowling entscheidet. Als Arthur Conan Doyle seinen Sherlock Holmes sterben ließ, wurde er so von den enttäuschten Lesern bedrängt, dass er ihn für neue Fortsetzungen auferstehen lassen musste.
Das Gespräch führte Cornelia Geißler